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Harmoniesucht: Der Mangel an Konfliktfähigkeit

„Also, am liebsten ist es mir, wenn alles harmonisch läuft. Wenn jeder zufrieden ist und es keine Spannungen gibt,“ so meine Klientin in einem unserer Gespräche. „Und warum ist Dir das so wichtig?“, frage ich. „Naja, diese Streitereien konnte ich noch nie haben, schon früher nicht.“ Wie hast Du denn Streit als Kind erlebt, erkunde ich weiter. „Ich bin dann immer in mein Zimmer gegangen und erst wieder rausgekommen, als es ruhig wurde.“ Welches Gefühl verbindest Du mit Streit, so meine anschließende Frage. „Mmh, irgendwie sowas wie Angst, Unsicherheit. Ich kann das schwer beschreiben …“

Meine Klientin hatte sich an mich gewandt, da sie an hoher Anspannung, innerer Leere, Schlafproblemen, Leistungsstreben, einem geringen Selbstwertgefühl und Erschöpfung litt.

In unseren Sitzungen konnten wir den Kern ihres Problems herausarbeiten: Das unbedingte Streben nach Harmonie und fehlende Konfliktfähigkeit.

Im folgenden werde ich versuchen, Ihnen eine Idee darüber zu geben,

  • was sich hinter Harmoniesucht verbirgt
  • woher das unbedingte Streben nach Harmonie rührt
  • an welchen Verhaltensmuster Harmoniesucht erkannt werden kann
  • warum Harmoniesucht im Grunde beziehungsschädigend ist
  • weshalb mangelnde Konfliktfähigkeit oft auf falschen Annahmen ruht
  • warum Konfliktfähigkeit mit Mut beginnt

Womöglich entdecken Sie ähliche Prägungen, Denk- und Verhaltensmuster bei sich selbst und wollen daran etwas ändern.

Harmoniebedürfnis vs. Harmoniesucht

Fast alle Menschen bevorzugen Harmonie, ihr Bedürfnis danach ist unterschiedlich stark ausgeprägt. Dahinter steckt das menschliche Grundbedürfnis nach Bindung und Zugehörigkeit.

Menschen wünschen sich Anerkennung und Wertschätzung für ihr Verhalten. Sie möchten erleben, dass es ok ist, eigene Ansichten in einem vertrauten Umfeld zu äußern.

Das Bedürfnis nach Harmonie ist eine Eigenschaft, welche die meisten Menschen teilen und nicht verwerflich ist. Eine Steigerung dieses Bedürfnisses ist die Harmoniesucht. Sie impliziert, dass man Konflikten gezielt aus dem Weg geht. Man passt sein Verhalten an, damit kein Streit entsteht. Ein Beispiel für ein harmoniesüchtiges Verhalten ist beispielsweise, der Meinung des Gegenüber uneingeschränkt auch dann zuzustimmen, wenn sie im Gegensatz zu der eigenen Ansicht steht. 

Woher rührt Harmoniesucht?

Die Ursache für Harmoniesucht findet sich meist in der Kindheit. Als Kind war es zum eigenen Vorteil, sich harmoniestiftend zu verhalten, möglichst nicht aufzufallen, seine eigenen Bedürfnisse gegenüber den Eltern nicht zu äußern. Man konnte damit Konflikte entschärfen, deeskalierend auf elterlichen Streit einwirken, sich Vorteile gegenüber Geschwistern verschaffen. Durch Unterdrücken eigenener Meinung oder Bedürfnisse vermied man es als Kind abgewertet, ausgegrenzt, beschämt oder ausgelacht zu werden. Aus diesem Verhaltensmuster entwickelte sich ein innerer Zwang, Spannungen oder Konflikte um jeden Preis zu vermeiden.

Harmoniesüchtige Personen haben einen inneren Zwang nach Harmonie und Einigkeit. Sie haben große Angst davor, Auseinandersetzungen nicht gewachsen zu sein.

Das Dilemma des vermeintlich pflegeleichten und artigen Musterkinds ist: Kein Mensch ist dauerhaft bedürfnislos oder ohne Ecken und Kanten. Jeder hat sogar das Recht auf seine – ganz eigenen – Bedürfnisse und Befindlichkeiten, Wahrheiten und Wünsche. Für sie einzustehen stützt das Selbstwertgefühl. Sie zurückzuhalten mag in der Kindheit eine notwendige Überlebensstrategie gewesen sein, um sich effektiv vor Ablehnung oder Verlassenwerden zu schützen.

Um jeden Preis die Harmonie zu wahren schützt vermeintlich vor Konflikten, schädigt aber den Selbstwert. Denn eine Säule des Selbstwert ist die Selbstbehauptung – und die wird unterdrückt.

Das Perfide: Denk- und Verhaltensmuster aus früheren Zeiten überdauern die Kindheit bis ins Erwachsenenalter. Und zwar auch dann, wenn sie im Grunde nicht mehr von Nutzen sind. Als Erwachsene sind nicht mehr von unseren Eltern abhängig. Wir stehen anders im Leben und haben mehr Möglichkeiten an der Hand, im Konfliktfall unseren Standpunkt zu vertreten. Auch haben wir alternative Möglichkeiten, uns sicher gebunden zu fühlen – außerhalb der Ursprungsfamilie.

Wer als Kind nicht gelernt hat, dass Unstimmigkeiten oder unterschiedliche Bedürfnisse in Beziehungen normal sind, entwickelt eine diffuse Angst vor Konflikten. Denn er fühlt sich ihnen nicht gewachsen und jede vermeintliche Meinungsverschiedenheit verursacht massivsten inneren Stress.

Typische Verhaltensmuster von Harmoniesüchtigen

Es gibt eine Vielzahl an Verhaltensmuster, die auf inneren Zwang nach Harmonie hindeuten. Dazu zählen:

  • Sie haben Angst vor Konflikten
  • Sie gehen schwierigen Gesprächen gezielt aus dem Weg
  • Sie werten die Bedürfnisse anderer höher als ihre eigenen
  • Sie zweifeln an sich selbst
  • Sie haben Schwierigkeiten, eigene Gefühle und Bedürfnisse zu äußern
  • Sie haben Hemmungen, Kritik zu äußern oder anzunehmen
  • Sie versuchen es immer allen recht zu machen
  • Sie haben Schwierigkeiten, Grenzen zu setzen
  • Sie verzeihen schnell
  • Sie opfern sich für andere auf
  • Sie spüren Spannungen sehr schnell und empfinden dabei große innere Anspannung

Harmoniesucht nach außen und innere Harmonie sind Gegensätze.

Wenn Sie sich in manchen Punkten wiederfinden, dann kann es sein, dass Sie stark nach äußerer Harmonie streben haben oder gar unter Harmoniesucht leiden. Um dies aufzulösen bietet es sich an, seine Ursachen zu reflektieren.

Wer ständig Harmonie sucht, verliert sich selbst

Harmoniesüchtige Menschen fühlen sich verantwortlich für die Stimmung in Beziehungen und das Wohlergehen ihrer Mitmenschen. Deshalb versuchen sie ständig herauszufinden, was in ihrem Gegenüber wohl gerade vorgehen könnte, was seine aktuellen Bedürfnisse oder Wünsche sein mögen. Nicht immer steckt tieferes Interesse hinter den Erkundungen. Es verbirgt sich dahinter vielmehr die eigene Absicherung – also das Gefühl von Sicherheit zu spüren. Wer um das Befinden und die Erwartungen des Gegenüber weiß, kann sich den Erwartungen gemäß verhalten. Das eigene Verhalten wird also vornehmlich an die realen oder vielmehr vermuteten Erwartungen der Umgebung angepasst.

Wohlwollen unterscheidet sich von Harmoniesucht darin, dass Wohlwollen aus innnerer Entspanntheit und Freiwilligkeit rührt. Harmoniesucht hingegen aus innerem Zwang.

Um andere Menschen nicht zu enttäuschen, werden die eigenen Wünsche und Bedürfnisse dabei ständig heruntergespielt, in die Zukunft verschoben oder sogar vollständig verleugnet. Um dies leisten zu können, unterdrücken bzw. ignorieren harmoniesüchtige Menschen zwangsläufig die eigenen Empfindungen. Hängt der berühmte Haussegen schief, geht ihnen das regelrecht an die Substanz. Und auch wenn Dritte streiten, können sie sich verantwortlich fühlen zu vermitteln. So übernehmen sie eine Menge Verantwortung, die eigentlich gar nicht bei ihnen liegt.

Harmoniesüchtige sind emotional wenig bei sich selbst und fixieren sich stattdessen stark auf ihre Umgebung. Sie sind mehr außer sich und weniger in-sich-ruhend.

Harmoniesucht ist auf Dauer beziehungsschädigend

Harmoniesüchtige Menschen sind oft bereit, Dingen zuzustimmen, die sie eigentlich nicht gut finden, um Konflikte zu vermeiden. Das geht sogar so weit, dass sie auch Fehler eingestehen, die sie gar nicht gemacht haben oder sich für Dinge entschuldigen, die sie nie getan haben, um Spannungen zu vermeiden.

Durch dieses Verhalten vernachlässigen harmoniesüchtige Menschen ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche und geben sich selbst auf. Sie setzen sich für die Bedürfnisse anderer ein, bevor sie ihre eigenen Bedürfnisse berücksichtigen. Das kann dazu führen, dass sie sich unverstanden und nicht wertgeschätzt fühlen. Harmoniesucht kann auch dazu führen, dass Konflikte nicht offen angesprochen werden und dadurch ungelöst bleiben. Das kann langfristig zu einer Verschlechterung der Beziehung führen.

Mangelnde Konfliktfähigkeit basiert auf falschen Vorstellungen

Wer bevorzugt klein beigibt, tut dies in der Überzeugung, nur auf diese Weise Wertschätzung und Anerkennung anderer zu erfahren. Dem konfliktängstlichen Verhalten liegen also gleich mehrere Irrtümer zugrunde:

  • Das Gefühl von Sicherheit durch Anerkennung lässt sich nicht kaufen

Es ist eine falsche Annahme zu glauben, dass man durch eigenes Verhalten kontrollieren kann, gemocht und respektiert zu werden. Der Versuch, die Anerkennung und Wertschätzung der eigenen Person bei anderen Personen aktiv steuern zu können, ist von Vorneherin zum Scheitern verurteilt.

Wir können durch unser Verhalten nicht kontrollieren, wie andere auf uns reagieren.

Aus Erfahrung ist das Gegenteil der Fall: Wer für sich sich und seine Bedürfnisse einsteht, erntet in der Regel mehr Anerkennung und ist bei seinen Mitmenschen beliebter. Denn souverän-wirkende, konfliktfähige und selbstsichere Menschen sind angenehme und berechenbare Zeitgenossen. Man weiß woran man bei ihnen ist. Das erleichtert erheblich die Kommunikation und das Zusammensein. Zudem wirken Menschen, die wissen, was sie selbst wollen auf ihre Mitmenschen anziehend und charismatisch.

  • Gute Beziehungen brauchen Augenhöhe und Reibung

Harmoniesüchtige leiden unter der irrationalen Angst, dass sie aus der Beziehung fallen, wenn sie für sich einstehen und Grenzen setzen. Auch sitzen sie oft dem Gedanken auf, dass Konflikte automatisch in Eskalationen münden, die einen Beziehungsabbruch bedeuten – und das ist das, wovor sie sich am meisten fürchten.

Harmoniesüchtige bringen sich um die Erfahrung, dass eine gesunde Beziehung ein hohes Maß an unterschiedlichen Bedürfnissen und Meinungen aushalten kann. Es hält die Beziehung vielmehr lebendig.

Die Realität zeigt, dass erfüllende und stabile zwischenmenschliche Beziehung langfristig nur auf Augenhöhe funktionieren. Wer Beziehungen und Freundschaften in dieser Hinsicht unterschätzt, beraubt sie nicht zuletzt ihrer Entwicklungspotentiale.

Erschwerend kommt hinzu: Viele harmoniesüchtige Menschen führen ein heimliches Schuldkonto. Für jeden Verzicht, für jedes Zurückstecken wird eine imaginäre Rabattmarke aufgeklebt. Jedoch will niemand dauerhaft in der vermeintlichen Schuld eines anderen stehen.

Wer ständig nur gibt, aber selten einmal nimmt, zwingt das Gegenüber in eine Schieflage, die auf Dauer jede Beziehung belastet.

  • Es Allen Recht machen geht nicht

Die Idee, man könne es allen recht machen erscheint umso verhängnisvoller, sobald man sich einmal vor Augen führt, dass – selbst bei den angestrengtesten Versuchenam Ende doch immer noch mindestens eine Person übrig bleibt, deren Bedürfnisse nicht erfüllt werden: Sie selbst.

Das Unterdrücken der eigenen Bedürfnisse beeinträchtigt auf Dauer das seelische Wohlbefinden, die innere Stabilität und das eigene Selbstwertgefühl. Und führt zu maximalem Stresserleben.

Konfliktfähigkeit lernen: Es braucht Mut zur eigenen Wahrheit

Fazit: Ein ausgeprägtes Harmoniebedürfnis entwickelt sich aus frühkindlichen Prägungen heraus. Betroffene haben in ihrer Kindheit oft zu hören bekommen, dass die eigenen Bedürfnisäußerungen und Wünsche unangemessen seien. Gerade für Kinder sind solche Vorwürfe sehr verletzend. Denn das wichtigste Bedürfnis von uns Menschen ist das nach einer stabilen und sicheren Bindung, gefolgt von Kontrolle und Vorhersagbarkeit. Um sich vor diesen Verletzungen zu schützen und aus Angst aus der Bindung zu fallen, beschließen manche Kinder, sich vor der Scham der Zurückweisung zu schützen. Zurückhaltung und Passivität in Bezug auf die eigenen Gefühle soll sie dann vor weiteren Zurückweisungen bewahren.

Im Erwachsenenalter ist der vormals bewährte Selbstschutzmechanismus nicht mehr angemessen. Was Sie einst geschützt hat, stellt dann keinen Selbstschutz mehr dar, sondern verkehrt sich ins Gegenteil und ist faktisch – eine Selbstverletzung.

Die gute Nachricht ist: Sie sind erwachsen. Sie haben jetzt die Möglichkeit zu lernen, für sich einzustehen, die eigenen Gefühle als inneren Kompass wieder aktiv wahrzunehmen, frühere Prägungen aufzulösen, hilfreiche Denk- und Verhaltensmuster zu entwickeln – und so letztendlich zu mehr Sicherheit, einem guten Selbstwert und innerer Stabilität zu finden.

Sie möchten raus aus der Harmoniefalle?

Dann nehmen Sie gerne Kontakt mit mir auf und wir sprechen über Ihre Situation. Gerne unterstütze ich Sie darin, einen für Sie passenden Weg zu finden, damit Sie Ihren beruflichen und privaten Alltag mit mehr Gelassenheit und Sicherheit erleben. Vereinbaren Sie einfach direkt ein unverbindliches Erstgespräch . Gerne stehe Ihnen hilfreich zur Seite!